In nahezu jedem Soll-Profil, welches wir zusammen mit unseren Kunden im Rahmen eines Assessment-Briefings erstellen, kommt der Begriff der «Empathie» vor. Fast alle Unternehmen suchen empathische Führungskräfte – und dieser Trend scheint sich immer noch mehr zu verstärken. Doch was ist damit eigentlich genau gemeint? Und kann man diese Eigenschaft im Rahmen eines Assessments tatsächlich messen?
Das ist zunächst einmal eine sehr gute und auch sehr berechtigte Frage. Auch nach 25 Jahren Erfahrung als Assessor stellt diese Aufgabe, die von unseren Kunden oft gewünscht wird, für mich immer wieder eine grosse Herausforderung dar: Wichtig ist, zuerst eine Vorstellung davon zu haben, was man eigentlich messen oder besser gesagt beurteilen will. Denn «Empathie» ist ein komplexes Phänomen, das sich aus verschiedensten Faktoren zusammensetzt. Dabei ist es in der Praxis hilfreich, einen vertretbaren und pragmatischen Mittelweg zu gehen zwischen einer sehr komplexen und einer sehr einfachen Herangehensweise. Ich unterscheide meistens folgende vier Betrachtungsebenen:
1. Das Erkennen einer Emotion
Kann jemand bei einer anderen Person eine Emotion überhaupt erkennen?
Das kann am besten überprüft werden im Rahmen eines Rollenspiels, in welchem der Rollenspieler während der Übung «in ein bestimmtes Gefühl hineingeht». In der anschliessenden Übungsbesprechung sowie anlässlich des Video-Feedbacks kann man dann zusammen mit dem Kandidaten auf die gespielte Situation zurückkommen. Dabei wird oft recht schnell klar, ob und in welchem Mass der Kandidat oder die Kandidatin eine bestimmte Emotion beim Gegenüber als solche erkannt hat.
2. Die «emotionale Resonanz»
Kann jemand tatsächlich «mit-fühlen» im Sinne von «die Emotion, die man beim andern erkennt, auch in sich selbst spüren»?
Die Überprüfung dieses Aspektes ist weit schwieriger. Hier sind verschiedene Herangehensweisen denkbar. Man kann beispielsweise im Rahmen eines Tiefeninterviews auf emotional gefärbte soziale Interaktionssituationen fokussieren, welche der Kandidat schon erlebt hat. Durch die Art und Weise, wie jemand über ein bestimmtes Erlebnis oder eine bestimmte Erfahrung berichtet, erfährt man einiges darüber, wie einfach es jemandem fällt, Gefühle von anderen Menschen ganz unmittelbar auch in sich selbst zu spüren. Das ist zwar anspruchsvoll und erfordert eine gewisse Lebenserfahrung, aber es ist möglich. Zudem ist emotionale Resonanz natürlich auch unmittelbar in der direkten Interaktion während eines Assessments überprüfbar.
3. Das Mitgefühl
Dieser Aspekt bezieht sich vor allem auf Situationen, in welchen man auf eine andere Person trifft, die leidet. Beim Mitgefühl hat man den Wunsch, das Leiden der anderen Person in irgendeiner Art zu lindern.
Dieser Aspekt ist etwas weniger anspruchsvoll, wobei man hier den Verzerrungsaspekt der sozialen Erwünschtheit nicht unterschätzen darf. Was heisst das? Ein Assessment-Kandidat oder eine Assessment-Kandidatin befindet sich – sofern es sich um ein Assessment im Rahmen eines Rekrutierungsverfahrens handelt – in einer Konkurrenzsituation und will einen guten Eindruck hinterlassen, um die eigenen Erfolgschancen möglichst zu optimieren. Dadurch besteht allerdings die Gefahr, dass man Dinge erzählt, von denen man glaubt, dass sie in dieser Situation sozial erwünscht sind – auch wenn sie nicht unbedingt der Wahrheit entsprechen. Diesen Mechanismus muss der Assessor:in durchschauen können, um sich dann auf die erzählten Inhalte im Rahmen des Interviews beziehen zu können.
4. Altruismus
Hier geht es um die persönliche innere Verhaltensbereitschaft, beim Versuch, das Leid der anderen Person zu lindern, auch ein gewisses Risiko für das eigene Wohlergehen in Kauf zu nehmen. Auch hier kann ein gut geführtes Interview spannende Informationen an den Tag bringen. Am erfolgversprechendsten sind gezielte Fragen nach persönlichen Erlebnissen, in welchen diese Eigenschaft eine Rolle gespielt haben könnte. Mit etwas Gefühl und der nötigen Erfahrung merkt man in der Regel rasch, ob es sich um authentische Inhalte handelt oder nicht.
Schliesslich geht es darum, die verschiedenen Ebenen am Ende wieder zu einem Gesamtbild zu verdichten, zumal alle Aspekte miteinander zusammenhängen und sich wechselseitig beeinflussen. In diesem Sinne kann man Empathie beurteilen – wenn auch nicht messen. Es gibt zwar auch Messverfahren (Fragebogen zur Persönlichkeit; Tests zur emotionalen Deutung von Gesichtsausdrücken), doch decken diese jeweils nur einen Teilbereich der Empathie ab oder basieren auf Methoden, welche den bereits erwähnten Verzerrungseffekt der sozialen Erwünschtheit nicht zu korrigieren vermögen. Mit unserer eigenen Methode – einem Mix aus fallspezifischen Übungen inkl. Videofeedback, einem narrativen Tiefeninterview sowie mit ergänzenden Persönlichkeitstests haben wir einen Ansatz entwickelt, mit dem wir gute Erfahrungen machen.